E wie Empathie

Die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden, ist eine wichtige menschliche Fähigkeit. Wird Rassismus psychologisiert oder moralisiert, wird oft auch suggeriert, dass es beim →antirassistischen Lernen darum geht, Empathie herzustellen. Empathie kann ein wichtiger erster Schritt sein, um sich überhaupt mit Rassismus auseinanderzusetzen. Sie kann aber von antirassistischen Kämpfen weder vorausgesetzt noch als Ziel verstanden werden.

Gerade Rassismus, aber auch andere soziale Machtbeziehungen, sind Empathieblocker. Dabei spielt das →Othering eine wichtige Rolle. Zum Beispiel werden Schmerzen bei →BIPoC aufgrund von rassistischen →Stereotypen weniger ernst genommen als bei weissen Menschen.

Die Grenzen unserer Empathie verlaufen oft entlang der Trennlinien, die durch Rassismus entstehen. Oder mit Judith Butler gesagt: «Letztlich ist das Problem aber nicht einfach ein Versagen der Empathie. Denn Empathie entsteht vor allem in einem Rahmen, der eine Identifikation oder eine Übersetzung zwischen der Erfahrung des anderen und meiner eigenen ermöglicht.» Und dem steht das rassistische Othering eben entgegen.

Empathielosigkeit ist damit ein Aspekt rassistischer Gewalt. Statt zu versuchen, Empathie herzustellen ohne die trennenden Machtverhältnisse zu berühren, muss das Muster der rassistisch blockierten Empathie selber erkennbar gemacht werden.

Schliesslich missraten solche didaktischen Versuche auch oft und produzieren statt Empathie Bedauern. Bedauern aber, erhält das Machtverhältnis aufrecht, was nicht selten mit einem Lustgewinn einhergeht. Die Bildergeschichte des weissen Abolitionismus illustriert das eindrücklich. (vgl. →anti-Schwarzer Rassismus).

Ein weiteres Problem mit unkritischer empathie-basierter antirassistischer Didaktik ist, dass es zur Verwechslung kommt: Die Person ohne Rassismuserfahrung entwickelt Empathie für jemanden und glaubt danach, zu wissen, wie es sich anfühlt, rassistisch diskriminiert zu werden. Dabei wird das «Eingefühlte» zwangsläufig vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen aufgefasst. Saidya Hartman betont anhand der Schriften weisser Abolitionist:innen im 19. Jahrhundert, dass das Nachempfinden, wiederum weisse Erfahrung zentriert und zu einer Art Ersetzung und erneuten Unsichtbarmachung der Erfahrung von →PoC führt.

Gleichzeitig spielt Empathie eine wichtige Rolle in zwischenmenschlichen Beziehungen, auch und gerade als solidarische Bereitschaft, die Erfahrungen der anderen Person über Privilegiengrenzen hinweg verstehen zu wollen. Empathie erscheint hier als lebendige Praxis, die sich zwischen konkreten Lebewesen stets erneuert. Empathie, die von einer solchen lebendigen Praxis abgelöst, als abstraktes respektive kategoriales Verhältnis eingefordert oder behauptet wird (z.B. in weissen und missionarischen abolitionistischen Schriften) wird instrumentell und verliert ihre transformative Kraft.

Vieles, was Rassismus →BIPoC vorenthält, ist als ihr Recht zu betrachten. Niemand möchte seine:ihre Rechte davon abhängig wissen, dass andere bereit sind, ihnen gegenüber Empathie zuzulassen. Empathie kann nur geschenkt, Rechte hingegen müssen erkämpft werden.

E wie Empathie. Sich den Gedanken, Motiven und Empfindungen anderer Menschen zuzuwenden, kann ein wichtiger erster Schritt sein, um sich überhaupt mit Rassismus auseinanderzusetzen. Empathie kann aber weder die Voraussetzung noch das Ziel antirassistischer Kämpfe sein. Die Überwindung von Rassismus braucht strukturelle, rechtliche, institutionelle Veränderungen, die über die Hinwendung in einzelnen Begegnungen hinausgehen.